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60er/70er Jahre: Im Land der Täter Menschen begegnet

Betreuung von Zeug*innen in den NS-Prozessen

Merle Funkenberg

Zeitgeschichtlich gesehen
Betrachtet man die Zeug/innenbetreuung vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der neueren NS-Forschung bezüglich der Ausgangssituation von Staat und Gesellschaft in der Gründungsphase der BRD, wird deutlich, dass es sich bei der ehrenamtlichen Betreuung von Überlebenden der Konzentrationslager um ein besonderes Unterfangen handelte. Die politische, ideologische und mentale Verbindung zur nationalsozialistischen Diktatur war in den 1950er Jahren noch tief. Bereits die erste Regierungserklärung Konrad Adenauers machte – wenn auch in zurückhaltenden Worten – deutlich, welche Haltung das Gründungspersonal der jungen Bundesrepublik in vergangenheitspolitischen Fragen einnahm: Ein Schlussstrich sollte unter die politische Säuberung der frühsten Nachkriegszeit gezogen werden. Amnestie und Integration wurden Leitbegriffe der „Vergangenheitspolitik“, die in den Augen Vieler ihre „Rechtfertigung“ im 1949 verkündigten Grundgesetz und der darin postulierten Abgrenzung vom Nationalsozialismus und der von Adenauer betriebenen Politik der Wiedergutmachung fand. Besonders deutlich wurde das „Schlussstrichdenken“ dieser Periode in den Straffreiheitsgesetzen (1949 und 1954) und in dem sogenannten „131-Gesetz“ (1951). Die großen Prozesse gegen nationalsozialistische Verbrecher, die in den 1960er Jahren einsetzten – so in erster Linie der Eichmann-Prozess (1961) und der Auschwitz-Prozess (1963-65) – hatten einen entscheidenden Anteil an der Wahrnehmung, der Einschätzung und dem Verständnis dessen, was die nationalsozialistische Diktatur bedeutete. Gerade diese prominenten Verhandlungen führten dazu, dass die Dimension der nationalsozialistischen Judenvernichtung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drang.

Belastung für die Zeug/innen
Die ehemaligen Häftlinge mussten im „Land der Täter“ große psychische Belastungen auf sich nehmen. In dem Bewusstsein, etwas erlebt zu haben, was in seiner Grausamkeit eigentlich nicht erzählbar oder verstehbar ist, fühlten sich viele Zeug/innen in einem schwer erträglichen Zwiespalt. Sie waren hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu vergessen und der Pflicht zu berichten. Oft hatte man den Eindruck, so der langjährige Prozessbeobachter Ralph Giordano, dass Opfer in Täter und Täter in Opfer verwandelt wurden: „Die Zeuginnen und Zeugen der Anklage erkannten auch nach so langer Zeit die Herrenmenschen von einst wieder, die allmächtigen Gebieter über Leben und Tod (…) und während sie beim Anblick ihrer Peiniger vor Entsetzen stammelten, bleich wurden, forderten Verteidiger von ihnen ungerührt genaueste Angaben über Tag, Ort, Stunde und Minute jener angeblichen Verbrechen, die ihren erinnerungslosen Klienten vorgeworfen wurden (…).“ Ungenaue Angaben über Zeit und Ort einer Mordaktion oder emotionale Ausbrüche vor Gericht wurden in der Regel als mangelhafte Glaubwürdigkeit der Zeugen gewertet. Nicht nur die Aussage vor Gericht strapazierte die Leidensfähigkeit der Überlebenden oftmals weit über die Grenze des Erträglichen hinaus, der gesamte Aufenthalt in Deutschland stellte die Zeug/innen vor Probleme und war häufig von Angst und Unsicherheit gekennzeichnet. Schon vor der Reise hatten viele Zeug/innen mit einer Ungewissheit hinsichtlich bundesdeutschen Verhältnisse zu kämpfen: „Wie würden sie im Land der Täter/ innen aufgenommen werden? Wer würde sie im Notfall stützen?“ Viele Zeug/innen kamen in Deutschland, „ohne einen Pfennig Geld in der Tasche am Bahnhof oder am Flughafen an“ und hatten Schwierigkeiten sich in den großen Städten wie Hamburg oder Frankfurt zu Recht zu fi nden. Wieder die deutsche Sprache zu sprechen und deutsche Worte zu hören, ließ bisweilen sogar panische Gefühle aufkommen. Betrachtet man diese äußerst belastende Situation der Zeug/innen wird deutlich, warum eine „Zeug/innenbetreuung“ von großer Wichtigkeit war. Am 20. Dezember 1963 wurde in Frankfurt am Main der Auschwitz-Prozess gegen zunächst 22 Mitglieder des Bewachungspersonals eröffnet. Die „Strafsache gegen Mulka u.a.“ war zum damaligen Zeitpunkt bereits das umfangreichste Verfahren in der deutschen Justizgeschichte. 

pax christi-Engagement
Hier nahm die Zeug/innenbetreuung ihren Anfang: Vier Frauen, Emmi Bonhoeffer, Ursula Wirth, Barbara Minssen, Hilde Müller und ein Student, Peter Kalb, hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Zeug/innen zu unterstützen. Ab 1965 setze das Engagement der pax christi- Mitglieder ein. Zur Initialzündung wurde eine Buswallfahrt nach Auschwitz: In der Pfingstwoche 1964 machte sich eine Gruppe von 34 pax christi-Mitgliedern unter der Leitung von Alfons Erb auf den Weg nach Polen. Alfons Erb, der 1936 als kritischer Mitarbeiter des „Kirchenblattes“ einige Monate in Gestapohaft verbringen musste, war von 1957 bis 1971 Vizepräsident der deutschen Sektion. Die Begegnungen in Polen bewegten den späteren Gründer des Maximilian-Kolbe-Werks nachhaltig. „Erb litt bereits während der Wallfahrt in Auschwitz psychisch wie physisch“, erinnert sich der ehemalige pax christi-Generalsekretär Dr. Joseph Scheu. Der NS-Prozess gegen den ehemaligen Leiter der Gestapo in Zakopane, der wenig später in Freiburg stattfand, bot den pax christi-Mitarbeiter/innen um Erb erste Gelegenheit, sich der Zeug/innen, die in diesem Verfahren aussagten, anzunehmen. Dies sollte jedoch nur der Anfang der „Versöhnungsarbeit“ sein. „Jeder Zeuge sollte in unserem Land einem Menschen begegnen, mit dem er Frieden schließt“, so Erbs Zielsetzung.

Gisela Wieses Hamburger Gruppe
Die Zeug/innenbetreuung zog weite Kreise. Bis 1975 setzen sich bundesweit in über 22 verschiedenen Städten Ehrenamtliche für die Belange der Zeugen in NS-Prozessen ein. Nicht immer war Alfons Erb Initiator der Helferkreise. So rief 1967 Gisela Wiese, die 1990 pax christi-Vizepräsidentin wurde, die Zeug/innenbetreuung im Hamburger Raum ins Leben. Wo immer die Betreuung stattfand, die zu bewältigenden Aufgaben und Herausforderungen hatten einen ähnlichen Charakter: Die ehrenamtlichen Helfer/innen holten die Zeug/innen nicht nur vom Flugplatz oder Bahnhof ab, begleiteten sie ins Hotel und standen ihnen am Tag ihrer Aussage vor dem jeweiligen Gericht zur Seite. Oft benötigten die Überlebenden auch medizinische Hilfe und es galt Arztbesuche, Medikamente oder sogar Kuren zu organisieren. Man unternahm gemeinsame Spaziergänge und kulturelle Veranstaltungen wurden besucht. Nicht selten, so berichtete Gisela Wiese 2009 in einem Interview, waren die Zeug/innen auch in den Privatwohnungen der Betreuer/innen zu Gast. Viele Überlebende trafen im Rahmen dieser gemeinsamen Unternehmung erstmals seit ihrer Befreiung wieder auf ihre Kameraden aus der Zeit in den Lagern. Im Gegensatz zu den formalisierten Abläufen und Begegnungen vor Gericht bot die Betreuung Gelegenheit zur persönlichen Begegnung. Es waren die ehrenamtlichen Helfer/innen, welche die Ängste, Probleme und Hoffnungen der Überlebenden hautnah miterlebten und ihnen häufig als erste und wichtigste Gesprächspartner/innen zur Seite standen. Die Betreuer/innen waren nicht nur stumme Rezipienten einer grausamen Botschaft. Mit ihrem Verständnis und Einfühlungsvermögen brachten sie den ehemaligen Häftlingen in vielen Fällen ein Stück Menschlichkeit zurück und konnten häufig Impulse setzten, den Hass gegen das deutsche Kollektiv einzudämmen oder gar zu besiegen. Beschäftigt man sich mit dieser Zeug/innenbetreuung, wird vor allem deutlich, welch große Bedeutung die persönliche Begegnung spielt, wenn es um Frieden und „Versöhnung“ geht. Zahlreiche Dankesbriefe von Zeug/innen an ehemalige Betreuer/innen sprechen eine deutliche Sprache. So formulierte eine Überlebende 1969: „Ich war fünf Jahre in Ravensbrück. Das war die Hölle auf Erden. Ich bin als Krüppel heimgekehrt. Gegen die Deutschen war ich voll Abneigung und Hass. (…) Als ich aber in einem KZ-Prozess in Freiburg war, habe ich Leute kennen gelernt, die mir jetzt sehr nahe stehen. So habe ich das erlittene Unrecht verziehen.“ 

 

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